Pippi Langstrumpf als Vorbild

Vor sechs Jahren schrieb ich hier einen Blogbeitrag über den Spruch „Sei Pippi, nicht Annika!“ Ich mochte diesen Spruch noch nie, denn meiner Meinung nach braucht die Welt Pippis UND Annikas und vor allem auch all die Menschen dazwischen. Dieser Blogbeitrag ist jedenfalls noch Jahre später fast jede Woche die Unterseite meiner Website, die am häufigsten angeklickt wird. Das Thema scheint viele Menschen zu bewegen und auch, wenn es viele neue tolle Kinderbücher und Helden und Heldinnen gibt, so ist Pippi Langstrumpf als Identifikationsfigur auch heute noch spannend.

 

Vor kurzem hatte ich ein sehr interessantes Gespräch mit Ann-Kristin Gäckle von edit., dem Studierendenmagazin der Hochschule der Medien im Rahmen ihrer Recherche zu der Frage, ob Astrid Lindgren mit Pippi Langstrumpf eine feministische Figur schaffen wollte. Durch unseren Austausch fragte ich mich „Was können wir auch heute noch von Pippi Langstrumpf lernen?“

 

Ich mag Pippis Zuversicht und ihr Vertrauen in sich selbst. Sie sagt z.B. den schönen Satz „Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe!“ Es gibt Untersuchungen dazu, dass sich Männer in Vorstellungsgesprächen oft viel mehr zutrauen und sich besser verkaufen als Frauen. Wenn ein Mann eine Stellenanzeige liest und von zehn Anforderungen sechs erfüllt, ist die Chance sehr groß, dass er sich trotzdem guten Mutes und mit Mut zur Lücke bewirbt. Eine Frau bewirbt sich, wenn sie vielleicht acht von zehn Anforderungen beherrscht, und fühlt sich im schlimmsten Falle dann noch wie eine Hochstaplerin!

 

Frauen tendieren dazu, lieber die xte Weiterbildung zu machen, um endlich wirklich kompetent zu sein, anstatt rauszugehen und loszugehen, für das, was sie wollen. In meinen Coachings treffe ich auf so viele so kompetente tolle Frauen – die gut vorbereitet sein wollen. Dinge wie Macht, Erfolg und Sichtbarkeit können uns durchaus Angst machen – dann lieber in der Komfortzone bleiben und noch ein Zertifikat erwerben.

Pippi Langstrumpf ist aus sich selbst heraus sicher, sie verlässt sich auf ihre Fähigkeit, dass sie schon alles hinkriegen wird, was sie sich vornimmt. Und sie ist superpragmatisch! Sie ist neun Jahre alt, schmeißt irgendwie ihren chaotischen Haushalt und schlägt sich ohne Eltern durch. Pippi Langstrumpf hat nicht gerade ideale Voraussetzungen: Ihre Mutter ist tot und ihr Vater ist weg. Manchmal ist sie einsam, aber sie macht das Beste aus ihrem Leben und genießt es – sie macht sich die Welt, wie sie ihr gefällt. An der Stelle finde ich Pippi Langstrumpf ein großartiges Vorbild, auch fürs Coaching, denn genau das möchte ich meinen Klientinnen ermöglichen – dass sie die Gestalterinnen ihres Lebens werden!

 

Was mich an dem Spruch „Sei Pippi, nicht Annika!“ heute zunehmend stört, ist, dass er Pippi aufwertet, indem er Annika abwertet. Frauen-Bashing at it’s best!

Ich glaube, dass dieser Slogan nicht im Sinne von Astrid Lindgren gewesen wäre. Denn Pippi funktioniert nur so gut durch Annika und Annika wiederum funktioniert nur neben Pippi. Es ist ein bekanntes und beliebtes Motiv in der Literatur und auch in Filmen, Serien etc., dass es eine angepasste und eine unkonventionelle Protagonistin gibt. Die Komik liegt dann häufig im Aufeinanderprallen der Welten und Ansichten und meist können beide voneinander lernen.

 

Eine Stärke ist nie nur eine Stärke, in ihr versteckt sich immer auch ein Fallstrick. Und umgekehrt ist eine vermeintliche Schwäche häufig nur eine ins Ungesunde übertriebene Stärke. Das kenne ich von mir selbst und ich merke es auch immer wieder in meinen Coachings, wenn Klientinnen an ihren Stärken und Schwächen arbeiten wollen. Auf Pippi und Annika übertragen: Pippis unkonventionelle und unabhängige Art ist eine ganz wunderbare Stärke. In der realen Welt (und auch in der fiktiven) ecken Menschen mit einem sehr ausgeprägten Individualismus allerdings auch mal an und fühlen sich einsam und unverstanden. Annikas ängstliche Angepasstheit wiederum birgt ein Geschenk: Die Annikas dieser Welt halten oft den Laden zusammen, sie handeln wohlüberlegt, was ja grundsätzlich ganz klug ist.

 

Wie furchtbar langweilig wäre diese Welt, wenn wir alle gleich wären - auch, aufs Arbeitsleben bezogen! Es gibt viele Persönlichkeitsmodelle, mit denen ich auch im Coaching arbeite, die verschiedene Grundtypen ausmachen. Oft gibt es in diesen Modellen vier Ausprägungen: die Macher*innen, die Visionär*innen, die Skeptiker*innen und die Bewahrer*innen. Keine Ausprägung ist besser oder schlechter als die andere und in der Regel sind wir Mischtypen. Und – Überraschung – es braucht alle vier Ausprägungen gleichermaßen, damit ein Team gut funktioniert und in Balance ist. Ein Team voller Pippi-Energie – Chaos pur! Eine Anhäufung von Annika-Vibes – Innovation gleich null!

 

Es ist nicht so schwarzweiß, wir sind nicht entweder Pippi oder Annika. Wir haben vielmehr alle sowohl angepasste als auch rebellische Anteile in uns und beide sind in unterschiedlichen Situationen sehr hilfreich.

 

Wir sind nicht jeden Tag und in jeder Konstellation gleich, mal sind wir Pippi, mal sind wir Annika, denn wir sind immer beeinflusst von unserer Umgebung und äußeren Einflüssen und wir sind entwicklungsfähig. Eine Annika kann durch bestimmte Erfahrungen üben, ein bisschen mehr aus sich herauszugehen, eine Pippi kann lernen, sich mal zurückzunehmen. Das berücksichtigt z.B. das Systemische Coaching: Es bezieht immer das System ein, in dem wir leben und arbeiten und geht davon aus, dass Veränderung möglich ist und keine Eigenschaft nur gut oder nur schlecht ist – alles hat seinen Preis und seinen Gewinn.

 

Bist du heute eher Annika oder Pippi? Oder irgendwas dazwischen?

 

(Hier geht es zu dem Artikel von Ann-Kristin Gäckle, in dem sie sich mit der spannenden Frage beschäftigt, ob Astrid Lindgren die Figur der Pippi Langstrumpf aus einer feministischen Motivation heraus erschaffen hat oder nicht.)

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0