Ein Nein ist immer auch ein Ja - und umgekehrt

Nein sagen – ein großes Thema für viele von uns und immer wieder auch Coachinganlass. Ein Nein zu einer Sache ist immer ein Ja zu einer anderen Sache. Und ein Ja zu etwas ist umgekehrt auch immer ein Nein zu etwas anderem. Das sind schöne Worte, die zwar toll klingen, aber nur dann helfen, wenn sie auch wirklich gefühlt und erfahren werden. Weshalb fällt es vielen von uns so schwer, Nein zu sagen? Die Frage lässt sich so wenig pauschal beantworten wie es ein Patentrezept fürs Nein-Sagen-Können gibt.

 

Für andere ist es wiederum sehr schwer, Ja zu sagen. Und auch das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben, die in unseren Biographien, unseren schönen und schmerzhaften Erfahrungen und in unserem Charakter begründet liegen. In allen Fällen haben wir vor etwas Angst bzw. wollen etwas vermeiden.

 

Was für mehr Verständnis für sich und andere sorgen kann, ist ein Beziehungs- und Persönlichkeitsmodell: das Riemann-Thomann-Modell. Die Wurzeln dieses Modells begründete Riemann, als er sich mit den Grundformen der Angst auseinandersetzte. Riemann war der Meinung, dass es vier grundlegende Ängste gibt, die für psychische Störungen ausschlaggebend sind: eine große Angst vor Kontrollverlust kann demnach zu Zwangshandlungen führen, die Furcht vor Vereinsamung zur Depression, die Angst vor Stillstand zu Hysterie und die Furcht vor Abhängigkeit zu schizophrenem Verhalten. Thomann befasste sich viele Jahre später mit diesen Formen der Angst bei nicht psychisch kranken Menschen und befand, dass wir auch im psychisch gesunden Zustand diese Ängste in uns tragen. Wir alle haben ab und zu Angst vor Ablehnung, vor Langeweile, vor Unberechenbarkeit und vor Vereinnahmung durch andere.

 

Die Ergebnisse von Riemann und von Thomann wurden zusammengefasst als das Riemann-Thomann-Modell, mit dem wir untersuchen können, wie hoch unser Sehnen nach Nähe, nach Distanz, nach Dauer und nach Wechsel ist. Wir alle haben diese vier Sehnsüchte und Bedürfnisse und die damit einhergehenden Ängste und Vermeidungsstrategien in uns. Meist nicht im ausgeglichenen Maße, sondern häufig mit einem deutlichen Schwerpunkt bei mindestens einer, eher zwei Ausprägungen. Und je nachdem, wie viel Bedeutung für uns das Streben nach z.B. Nähe hat, reagieren wir unterschiedlich auf Situationen, auf Menschen und unter Druck.

 

Was am Riemann-Thomann-Modell ein großer Vorteil ist: es handelt sich nicht um ein Entweder-Oder-Modell. Es berücksichtigt gerade durch seine scheinbare Einfachheit (es werden nur vier Kriterien untersucht, aber die Unterschiede liegen in den Nuancen) eine hohe Komplexität des einzelnen Menschen: wir brauchen nicht Nähe oder Distanz, sondern wir brauchen immer beides. Im Berufsleben brauchen wir vielleicht mehr Distanz, im Privatleben mehr Nähe. In der Freundschaft mit einem eher konservativen Menschen fühlen wir uns vielleicht spontaner als in der Freundschaft mit einem anderen Menschen, der ein sehr abenteuerliches Leben führt.  Da nehmen plötzlich wir den bodenständigen Part in der Freundschaft ein. Das bedeutet nicht, dass wir verschiedene Menschen sind. Es bedeutet, dass wir in unterschiedlichen Kontexten und Beziehungen anders agieren und reagieren und uns selbst anders wahrnehmen. Und wenn das eine Bedürfnis ausreichend befriedigt ist, meldet sich nach einer Weile häufig das scheinbar gegensätzliche Sehnen. Wer sehr lange sehr viel Aufregung und Lebendigkeit, Abwechslung und Flexibilität hatte, sehnt sich irgendwann wieder nach Konstanz, Sicherheit und Verbindlichkeit. Wer sehr lange sehr unabhängig und frei gelebt hat, viel Zeit für sich hatte und niemandes Erwartungen erfüllen musste, wünscht sich irgendwann wieder mehr Nähe und Zugehörigkeit, Austausch und Wir-Gefühl.

 

Zurück zum Thema Nein-Sagen: ein Mensch, der eine hohe Ausprägung im Bereich Wechsel hat, hat nach dem Riemann-Thomann-Modell Angst vor Stillstand und schreibt Werte wie Abwechslung, Abenteuer, Weiterentwicklung, Kreativität und Lebenslust groß. Dieser Mensch kann also Probleme damit haben, Nein zu sagen, weil er fürchtet, etwas zu versäumen.

 

Der Gegenpol zum Wechsel ist die Dauer-Ausprägung. Wer hier einen starken Schwerpunkt hat, vermeidet in der Regel Veränderungen und vertritt Werte wie Ausdauer, Pflichtgefühl und Ordnung. Nein zu sagen, könnte ein Mensch mit hoher Dauer-Ausprägung als verantwortungslos und unzuverlässig empfinden.

 

Die anderen sich gegenüberliegenden Ausprägungen sind Nähe und Distanz. Wer eine große Ausprägung im Nähe-Bereich hat, vermeidet es um jeden Preis, isoliert und einsam zu sein. Ihm liegt viel daran, Teil einer Gemeinschaft zu sein und gemocht zu werden. Ein Nein könnte einen Menschen mit Nähe-Ausprägung die für ihn so wichtige Sympathie und das Wohlwollen seines Gegenübers kosten.

 

Menschen mit großem Fokus im Distanz-Bereich hingegen bringen viel Energie dafür auf, Abhängigkeit und Übergriffigkeit durch andere zu vermeiden. Für sie ist es wichtig, respektiert zu werden und nicht verwickelt zu werden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass diese Menschen gar keine Probleme haben dürften, Nein zu sagen. Schließlich sind sie nicht so auf die Reaktionen der anderen angewiesen wie ein Mensch mit ausgeprägter Nähe-Orientierung. Das Problem, Nein zu sagen, kann einem Menschen mit Distanz-Ausprägung trotzdem begegnen. Denn ein Nein könnte übergriffige und stark emotionale Reaktionen des Gegenübers bewirken – und solche Verwicklungen und Verstrickungen behagen Menschen mit einem großen Schwerpunkt im Distanzbereich gar nicht.

 

Vier völlig unterschiedliche Motivationen, nicht Nein sagen zu wollen oder zu können. Das verdeutlicht, dass es auch (mindestens!) vier unterschiedliche Strategien geben kann, das Nein-Sagen zu lernen. Haben Sie sich in einer der vier Ausprägungen erkannt? Haben Sie mehrere Schwerpunkte und – scheinbar – widersprüchliche Bedürfnisse?

 

Oder ist Ihre Herausforderung tatsächlich eher das Ja-Sagen zu etwas und jemandem? Denn auch das kann – aus unterschiedlichsten Gründen – eine große Aufgabe sein.

 

In einem Coaching lässt sich mehr über die eigenen Motive, nicht Nein oder Ja sagen zu können, erfahren und es können gemeinsam individuell passende Strategien entwickelt werden.

 

Denn wie schön wäre das, wäre die Angst kein Gegner, der bekämpft gehört, sondern eine Chance, sich selbst besser kennen zu lernen?

 

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