Vom Vertrauen und Loslassen

Ich war immer ein Sommerkind. Wenn der Herbst kam, war ich deprimiert, traurig und melancholisch. Ich konnte nie verstehen, was andere an der Dunkelheit finden, an den kurzen Tagen, dem Nebel, der in alle Glieder kriechenden Feuchtigkeit. Den Teil des goldenen Herbstes fand ich fast noch schlimmer als die November-Tristesse: sich über jeden warmen Tag freuen, den man dem September oder Oktober noch abtrotzen kann und gleichzeitig immer bangen, dass es der letzte sein wird.

 

 

„Es werden nochmal über 20 Grad“ heißt es, die Wärme des Sommers ist noch so halb im Herzen, während die Bräune auf der Haut verblasst und die Sonnenblumen die vertrockneten Köpfe hängen lassen, es morgens schon kalt ist, aber nachmittags nochmal warm. Diese Übergangszeit, die nichts Ganzes und nichts Halbes ist, wenn der Sommer im Sterben liegt und sich an manchen Tagen nochmal aufbäumt, aber die Sonne schon keine Kraft mehr hat. „Aber dieses Licht!“ „Die frische Luft am Morgen!“ „Endlich wieder Kerzen anzünden!“ „Sich in einen dicken Schal kuscheln!“ Das sagen alle romantischen Herbstliebhaber und ich entgegnete „Aber Aufstehen und Nachhausekommen im Dunkeln!“ und schwärmte vom Sommer: „Laue Sommernächte! Mit dem Fahrrad zum See fahren! Nur ein Kleid überstreifen! Sommerpicknicks im Park! Lange Tage am See! Gartenleben! Freiheit! Leichtigkeit!“ Es fiel mir immer schwer, den Sommer gehen zu lassen.

 

 

Und dieses Jahr ist alles anders. Ich habe mich über ein Wiedersehen mit meinen dicken Wollpullis gefreut. Ich habe Kastanien gesammelt wie früher als Kind. Ich trinke nicht weniger als zwei Kannen Tee am Tag. Ich bastle wie ein Weltmeister mit meiner Tochter. Ich sitze dick eingepackt und mit einer Thermoskanne Tee am Rand des Fußballfeldes und gucke meinem Sohn beim Fußballspielen zu. Ich presse buntes Herbstlaub und freue mich über morgendlichen Nebel, der über dem Fluss hängt.

 

 

Und dann erinnere ich mich, dass es schon mal so ähnlich war: beide Male, als ich im Spätsommer erfahren habe, dass ein Baby unterwegs war. Da habe ich mich im Einklang mit der Natur und den Jahreszeiten gefühlt. Sie hatten alle ihren Plan für mich, im Spätsommer enstand da etwas in meinem Bauch, über den Herbst und den Winter habe ich zweimal Leben in mir heranwachsen lassen und im Frühling, als alles von vorne losging, hielt ich ein Baby im Arm: neues Leben zum Frühlingsbeginn.

 

 

Und dieses Jahr? Ich hatte einen schönen Sommer, einen wirklich freien, glücklichen, großen Sommer. Es war mein 41. Sommer und ich will noch viele erleben. Aber zum ersten Mal ist die Dankbarkeit für all die Sommer, die ich bereits hatte, größer als die Gier nach allen, die noch kommen werden. In den letzten Jahren habe ich mich geübt im Loslassen und ich weiß, dass es einerseits die Ruhe vorm Sturm gibt und andererseits, dass es eine Weile dauert, bis sich wieder gelegt hat, was wir aufwirbeln oder was uns das Leben so an Stürmen bereitet.

 

 

Als ich ein Kind war, ist mein Vater mit mir immer im Grunewald spazieren gegangen. Er trug mich im Herbst auf seinen Schultern und ich habe die schönsten bunten Blätter von den Bäumen gepflückt, „dem Herbst helfen“ nannten wir das. Wann und wieso hatte ich das verlernt, diese Freude am Loslassen, dieses im Einklang sein mit dem Hier und Jetzt? Das kindliche Verständnis dafür, dass auf eine Jahreszeit automatisch immer eine andere folgt. Im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne. Das Vertrauen, dass schon alles wiederkommt und seine Zeit hat, wenn man es nur gut sein lässt und sich einlässt. Meine fünfjährige Tochter sagte kürzlich „Und nach dem Herbst kommt der Winter, dann der Frühling, dann der Sommer und dann geht es wieder alles von vorne los. Immer und immer wieder geht alles von vorne los!“

 

Immer und immer wieder.

Wer könnte es einem eindrücklicher vermitteln, wie schön, bunt und bereichernd Loslassen sein kann als der Herbst? Nur wer loslässt, hat die Hände frei.

 

"Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“

 

(Rilkes "Herbst" aus "Das Buch der Bilder“)

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0