Zulassen kommt vor dem Loslassen - Im Coaching ist Raum für beides

 

„Positive vibes only“ – diese Worte sind zu finden auf T-Shirts, Kaffeetassen und alleine bei Instagram findet man 4,6 Millionen Ergebnisse für diesen Hashtag.

 

Ins Coaching kommen in der Regel Menschen, die mit etwas unzufrieden oder unglücklich sind und etwas zum Positiven verändern möchten. Oft beauftragen mich Menschen nach einer Kündigung, einer Mobbingerfahrung, einem Verlust oder einem anderen emotionalen Schock. Da sind dann besonders am Anfang des Coachingprozesses – verständlicherweise – nicht so viele "positive vibes".  Es darf geweint und geschimpft werden, zwischendurch natürlich auch gelacht. Der Spruch „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere“ wäre da so wahr wie auch zum falschen Zeitpunkt unsensibel, finde ich. Denn meistens stehen wir ja erstmal wie gelähmt im Flur und starren auf die zugefallene Tür. Einige Flure sind wirklich lang und es gilt sie erst zu durchqueren, bevor da Lust, Energie und Neugierde auf andere Türen entstehen und bevor diese Türen überhaupt erstmal sichtbar werden. Manchmal verbergen sie sich ziemlich gut.

 

Verluste und Abschiede wollen gefühlt werden und nicht gleich gedeckelt werden mit dem Hinweis darauf, dass es ja noch schlimmer hätte kommen können und „wer weiß, wofür es gut war“, vorschnellen Lösungsvorschlägen getreu nach dem Motto „Ratschläge sind auch Schläge“ und blindem Aktionismus. Für manche von uns ist z.B. der Verlust eines geliebten Haustieres riesengroß und schmerzhaft, andere Menschen stecken ganz andere Schicksalsschläge auf den ersten Blick locker weg. Gefühle und Schmerz bei sich selbst und anderen zu relativieren, hilft jedenfalls nicht.

 

Man stelle sich das einmal umgekehrt vor: Ein Mensch berichtet freudestrahlend von seinem Glück und einer tiefen Zufriedenheit, einem großen Erfolg, einer neuen Liebe und erhält darauf die Antwort „Es kommen auch wieder andere Zeiten!“ Oder man schleudert diesem glücklichen Menschen (als Äquivalent zum Totschlag-Argument „Anderen geht es doch viel schlechter!“) ein „Anderen geht es doch noch viel besser!“ entgegen. Das fänden wahrscheinlich die meisten Menschen absurd.

 

Weshalb aber ist es okay, Kummer zu relativieren und herabzuwürdigen? Denn selbstverständlich kommen wieder andere Zeiten – bessere und schlechtere. Kein Gefühl ist je final, aber in dem Moment ist es eben präsent und ernst zu nehmen. Und natürlich könnte es immer noch schlimmer kommen und anderen geht es noch schlechter. Aber erstens: Wer vermag das zu beurteilen? Glück und Unglück lassen sich schwer messen, so individuell und subjektiv sind beide. Und zweitens: Dass Vergleichen unglücklich macht, ist den meisten Menschen klar, zumindest solange es um das Vergleichen mit (vermeintlich) erfolgreicheren oder schöneren, glücklicheren Menschen geht. Weshalb aber sollte es umgekehrt plötzlich okay sein, sich zu vergleichen und sich daran hochzuziehen, dass andere es noch schwerer haben?

 

Wir alle haben verschiedene Erfahrungen gemacht, verfügen über unterschiedlich große Ressourcen und komplett individuelle wunde Punkte.  Somit erleben wir das (scheinbar) selbe nie gleich. Also wäre es doch irgendwie anmaßend, mit dem einen einzigen Patentrezept um die Ecke zu kommen, das für alle gilt. Für Kummer und auch für Lösungen gibt es keine Einheitsgröße.

 

Im Coaching versuche ich einen Raum zu schaffen für alle Gefühle, auch die dunklen. Die, die wir nicht mögen und die, die wir anderen nicht so gerne zumuten. Eben nicht „positive vibes only“. Das, was Menschen im privaten Umfeld kaum ertragen können – eine leidende Freundin, von der man unbedingt will, dass es ihr schnell wieder besser geht – kann und sollte ein Coach aushalten. Ein Coaching schenkt den sicheren Rahmen und den geschützten Raum für Tränen, Verzweiflung, Wut und Traurigkeit. All das, was FreundInnen, Familie und andere nahe Menschen oft nicht aushalten können, weil sie mitleiden.

 

Bevor es wieder leichter wird und Lösungen erarbeitet werden können, ist es meiner Meinung nach essentiell, sich selbst zu erlauben, über einen Verlust traurig, wütend und erschüttert zu sein. Denn was nicht zuende gefühlt wird, bleibt im System stecken, lähmt uns dann zu einem späteren Zeitpunkt und bricht sich Bahn, wenn wir es gerade gar nicht gebrauchen können und auch nicht erwarten. Die Zellen speichern Stress, Kummer und Traumata, unterdrückte Gefühle können krank machen. Nicht umsonst werden Menschen z.B. häufig erst krank, wenn eine akute Anspannungssituation oder eine Prüfungsphase etc. vorbei ist. Und nicht von ungefähr werden am Anfang einer neuen Liebe, wenn alles so unbeschwert sein könnte, alte Gefühle, Ängste und Trigger wieder wach.

 

Ich finde, wir dürfen traurig sein, wenn etwas endet – sei das eine Beziehung, ein Arbeitsverhältnis, eine Freundschaft oder was auch immer, woran wir unser Herz hängen. Wir dürfen wütend sein über eine ungerechte Behandlung. Wir dürfen uns zurückziehen, unsere Wunden lecken und trauern. Ohne gut gemeinte Ratschläge von außen und ohne den zwanghaften Reflex aus jeder schlechten Erfahrung gleich einen Mehrwert zu ziehen. Denn auch Positivität um jeden Preis kann toxisch wirken – bei Instagram finden sich immerhin 47.000 Ergebnisse zu dem Hashtag „toxicpositivity“.

 

Wollen wir im Coaching gemeinsam Türen schließen, Traurigem Raum geben und es dann – wenn die Zeit reif ist – loslassen, Flure überqueren, ein bisschen verweilen und dann gucken, ob da noch mehr Türen sind? Im eigenen Tempo und ohne Vergleiche mit anderen scheinbar glücklicheren oder unglücklicheren Menschen. Alle vibes sind willkommen.

 

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