Vom Schmerz und Glück des Loslassens

 

Kürzlich habe ich mich von ca. 400 Büchern getrennt. Bücher, die mich teilweise seit 25 Jahren begleitet haben. Bücher, die ich verschlungen und geliebt habe. Bücher, über die ich gelacht und geweint habe. Bücher, die ich verliehen und rezensiert habe. Bücher, die ich zigmal nachgekauft und verschenkt habe, weil sie mich so begeistert haben. Bücher, die ich geschenkt bekommen habe von Menschen, die mir wichtig waren. Bücher mit Widmungen. Bücher mit Notizen und Eselsohren und Unterstreichungen. Bei Mulischs „Entdeckung des Himmels“ ließ ich einen Kuchen anbrennen, Kunderas „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ hat mich bis in meine Träume verfolgt und mit Sven Regeners „Herr Lehmann“ saß ich laut lachend in der U-Bahn. Als ich schwanger mit Schweinegrippe im Krankenhaus in Quarantäne lag, flüchtete ich mich vor den Ängsten und Sorgen mit Harry und Hermine nach Hogwarts. Als ich einen lieben Menschen verloren hatte, brachte mich Joanne Harris‘ „Chocolat“ durch die Nächte.

 

 

Lesen war schon immer mein größtes Glück, das ich mir mit sechs Jahren in dem Sommer vor meiner Einschulung irgendwie selbst beigebracht hatte. Ich verbrachte diesen Sommer bäuchlings auf einer Wiese und verschlang Astrid Lindgrens und Ottfried Preußlers Werke. Eine ganze neue Welt hatte sich da für mich aufgetan. Ich träumte mein halbes Leben davon, Schriftstellerin oder zumindest Buchhändlerin zu werden.

 

 

Als ich noch alleine wohnte, hatte ich ein wunderschönes Zimmer, in dem nur Bücherregale und ein Schreibtisch standen und ich nannte dieses Zimmer nie Arbeitszimmer, sondern immer nur Bücherzimmer. Meine Bücher waren nach Farben geordnet und ich wusste genau, welches ich wann und wo gelesen hatte. E-Book-Reader gab es zu dieser Zeit noch nicht, aber sie könnten mir auch nie das Gefühl eines echten Buches ersetzen. Bücher waren immer meine Freunde, mein Trost, meine Inspiration, mein Schlüssel zur Welt und gleichzeitig mein Rückzugsort.

 

 

Ich hätte diese Bücher nie freiwillig aussortiert. Der Auslöser dafür war der Wunsch unseres Sohnes nach einem eigenen Kinderzimmer – wir machen also aus unserer Dreizimmerwohnung eine Vierzimmerwohnung mit zwei Kinderzimmern. Folglich muss ein Teil unseres Wohnzimmers weichen und mit ihm fünf große Bücherregale. Ich habe Wochen gebraucht, um jedes der insgesamt ca. 550 Bücher einmal in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, ob es bleiben darf oder nicht. Das war für mich sehr traurig, anstrengend und zeitaufwendig. Und nun sind drei der fünf Regale leer, ca. 150 Bücher habe ich behalten (sogar noch weniger, als ich geplant hatte) der Rest ist verschenkt und verkauft und das Ergebnis ist erstaunlicherweise ein ganz anderes als gedacht. Nachdem ich irgendwann von sentimental zu pragmatisch wechselte, stellten sich nacheinander Erleichterung, Klarheit, Dankbarkeit, Befreiung und Freude ein.

 

 

Es ist schön, dass ich jetzt nur noch besitze, was ich wirklich besitzen will.

Es ist schön, dass ich etwas hatte und es loslassen kann.

Es ist schön, dass andere Menschen sich jetzt über meine geliebten Bücher freuen.

Es ist schön, dass ich in meinem Leben bis heute so viel lesen und erleben konnte.

Es ist schön, dass da jetzt so viel Raum für Neues ist.

Für ein zusätzliches Kinderzimmer…

Für einen Neubeginn…

Für einen neuen Lebensabschnitt…

Für das Aufschlagen von neuen Kapiteln...

Für das Schreiben von neuen Geschichten.

 

Für die Erkenntnis: Alles, was ich verlieren kann, kann ich in seiner Essenz auch jederzeit wieder neu erschaffen. Und das wirklich Wichtige ist sowieso in mir.

 

 

„Nur wer loslässt, hat die Hände frei für Neues.“  Was möchten Sie Altes loslassen – Dinge, Zweifel, Druck, Sorgen? Was möchten Sie Neues gewinnen – Klarheit, Sicherheit, Freiheit, Freude?

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Andrea (Sonntag, 14 März 2021 08:38)

    Das ist so traurig und schön. Was die Kinder alles bewirken und verändern. Für sie machen wir uns auf den Weg